Renate Ritter www.renate-ritter.de 2021

Auszug aus einem unveröffentlichten Vortrag 2015 im
Bad Wildunger Arbeitskreis für Psychotherapie

Transgenerationale Einwirkungen in Nachkriegskindheit

Gedanken zum generationalen Kontext von Nachkriegskindheit

Mit dem Begriff der Generation ist eine Gruppe von Menschen gemeint, die als gemeinsame
Erfahrung eine Wirkung von Sozialisierungsbedingungen teilen. Eine generationale Beschreibung
versucht, in Sinnzusammenhang zu stellen, was sonst in der Fülle des Einzelerlebens allzu
unterschiedlich und vielschichtig bleibt. Es geht darum, sich selbst zu bedenken und gleichzeitig
sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und zwar nicht im vertikalen Generationenverständnis der
Altersabfolge, sondern im horizontalen Verständnis der Gleichzeitigkeit, also einer generationalen
statt einer transgenerationalen Matrix.

Um eine solche Matrix von Angehörigen einer Altersspanne zu definieren, muß ein Kriterium
benannt werden, um das herum sich die Vielfalt der persönlichen Biographien und Schicksale in
einer Gruppenidentität beschreiben läßt.

Eine generationale Verbundenheit in der Identität läßt sich für die häufig genannten "Kriegskinder"
durch die Geburtsjahrgänge 1939 - 1945 beschreiben. Ermann äußert sich hierzu seit langem. Diese
Spanne umfaßt 2-Jährige, 4- und 6- Jährige, die sich in ihrem Erleben sehr unterschiedlich zeigen in
den durch Reife und Entwicklung bedingten psychischen Bearbeitungsformen: das Geschehen mag
als unregulierter Schrecken in die innere Struktur eingegangen sein, als Attacke von Panik in
existentieller Angst oder als benennbares und erinnerbares Ereignis.

Um die psychischen Bedingungen der von mir gemeinten Nachkriegskindheit zu beschreiben, lege
ich als Kriterium fest: „Überlebende Mitte 1945 zeugen Kinder". Diese Generation des Nachkriegs
beginnt also im März 1946 und ich habe sie bis 1956 gefaßt, 13 ganze Jahre nach Stalingrad, als die
letzten Kriegsgefangenen aus Sibirien heimkehrten und Väter von Nachkriegskindern werden
konnten.
Ich habe die Grenze auch deshalb 1956 gezogen, weil bis zu diesem Zeitpunkt eher diejenigen
Eltern wurden, die Nationalsozialismus und Kriegszeit bewußt erlebt hatten. Die "Kriegskinder" mit
einem vielfach unsymbolisierten unmittelbar traumatischen Erleben stehen für eine Elternschaft, die
im wesentlichen erst nach 1956 einsetzen konnte und wiederum andere generationale psychische
Verhältnisse mit sich brachte.

In den Jahrgängen 1946-56 gilt, daß Kinder von beiden überlebenden Elternteilen stammen. Sie
haben also den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus nur durch die psychischen Vorgänge in
den Erwachsenen vermittelt bekommen, durch deren Impulse oder Abwehr, ohne erlebte
Kriegstraumatisierung und ohne eigenes Wissen oder persönliche Eindrücke aus der Zugehörigkeit
zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.

Die Anwesenheit beider überlebender Eltern teilt diesen Nachkriegskindern somit das Geschehen2
durch das Erleben der Eltern hindurch mit.

Eltern der Nachkriegskinder 1945 Niederlage und Befreiung

Die Eltern der Nachkriegskinder 1946 - 1956 haben ihrerseits halbwüchsig oder erwachsen als aktiv
Beteiligte einen Krieg erlebt.
Die 1945 20-Jährigen hatten zu diesem Zeitpunkt ein anderes Erleben als 30- oder 40- Jährige. Bei
letzteren hätte der Geburtszeitpunkt 1905 gelegen, zur glorreichen Kaiserzeit, bei den 30- Jährigen,
den am ehesten wahrscheinlichen Eltern der Nachkriegskinder, lag er bei 1915. Für sie war eine
Kindheit in materieller Not und einer gravierend ungerecht erscheinenden Kriegsniederlage
(Dolchstoßlegende) im Erleben verankert.

Im späteren und unabweisbaren Wissen über den Nationalsozialismus dominiert der Schrecken über
die verübte Destruktion, über die Schicksale der Ausgeschlossenen und Ermordeten. Das offizielle
Gedenken stellt den Holocaust, die gemeinsam zu vertretende Schande in den Mittelpunkt. Eine
nachträgliche Erzählung kann nicht anders, als die Verleugnung von Schuld und Scham zu
beschreiben, die Zertrümmerung von Zivilisation.

Für viele junge Menschen im 3. Reich dominierte jedoch wie für jede Jugend ein Aufbruch, eine
Begeisterung, die noch gestärkt wurde durch die beanspruchte Geltung des Reiches, wirtschaftliche
Erholung, Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Sie waren in der Lebensspanne des Aufbruchs, in der
ersten Liebe, und erlebten als Jugendliche eine narzisstische Begeisterung, dabei zu sein, dazu zu
gehören: "die Fahne flattert uns voran..." wenn wir "im Frühtau zu Berge" ziehen, als deutsche
Jugend begehrt und privilegiert in BDM und Hitlerjugend. Sich verlieben, sich binden, ökonomisch
versorgt zu sein,
„aus grauer Städte Mauern“ aufzubrechen: dieses Erleben konnte nach 1945 in der Familien- und
Alltagsgeschichte der Zeitgenossen nicht mehr unbefangen berichtet und kaum noch nachgefühlt
werden. Wie sollte über eigenes Glück berichtet werden im Angesicht des im eigenen Namen
angerichteten destruktiven Schreckens für andere Völker und Gruppen?

1945, zwischen "Niederlage" und "Befreiung", mußten die Vernichtung, der Zusammenbruch und
die Schande über das in ihrem Namen Geschehene zur Kenntnis genommen werden. Eine
Verstörung entstand hier, die verstummen ließ, denn eigenes Trauma, eigene Schuld, schwere
Scham - alles war gleichzeitig die Wahrheit der womöglich schuldlos doch an Schuld Teilhabenden,
häufig ein Nebeneinander in der gleichen Person von zugefügtem und erlittenem Leid.

Schweigen, durchhalten, verdrängen, bagatellisieren und funktionieren, dies wurde zu
Lebensmustern, die ohne den Weg über innere Bearbeitung äußere Lösungen anboten durch die
Wiedergutmachungsleistung des Aufbaus.
 
In den Veröffentlichungen zur transgenerationalen Weitergabe in den Familien der Täter wurden
deren Abwehrformen der Sprachlosigkeit, Verleugnung und Dissoziation beschrieben z.B. von
Kestenberg et al, in kollektiven Mustern der inneren Abtrennung, des Besetzungsentzuges, der zu
einem Mangel an Selbsteinfühlung führt.
Rosenthal hält fest, daß dies für Eltern als Täter nicht anders als für die Eltern als Opfer gilt, von
denen viele ihre Demütigung und tiefe Überlebensscham vor ihren Kindern zu verbergen suchten.
Eltern wollten die Kinder mit ihren eigenen Traumata nicht verletzen und taten es dann doch durch
die dunklen Stellen und schwarzen Löcher in ihren Erzählungen. Die Ausgrenzung von psychischen3
Prozessen hat gewichtige Konsequenzen für die innere Verfassung.

Es entstand erst in den 9oer Jahren eine breite fachliche Auseinandersetzung über das Wesen von
Traumatisierung mit zahlreichen Veröffentlichungen, etwa von Reddemann et al. Beschrieben
werden hier eine Störung in der Fähigkeit zur Selbstregulation; auf alltägliche Situationen mit
Übererregung und Reizbarkeit zu reagieren; die emotionale Betäubung.
Die überflutenden Gedanken, die heftigen Schreckreaktionen: kleinste körperliche Berührungen
oder Geräusche führen zu extremem Erschrecken.

Nachkriegskindheit

Ab Frühjahr 1946 geboren, hat diese Generation auf jeden Fall beide Eltern als Kriegsüberlebende
in der Familie erlebt und ist in Ruhe und Frieden geboren, wenn auch in der Kälte, Armut, Enge, die
von fast allen geteilt werden, gleich aus welchen Kriegs- und Vertreibungsschicksalen sie nun im
Frieden angekommen sind.

Immer wollen Eltern, daß ihre Kinder vom Geschehen unbelastet sind und „es besser haben sollen“.
Auch wünschen Eltern, durch das Gedeihen und Wohlbefinden ihrer Kinder vermittelt die
Bestätigung zu erlangen, daß sie gute Eltern, ja gute Menschen sind. Dies gilt besonders in
schuldbelasteten Verhältnissen, wo gerne der gute Umgang mit Kindern, das freundliche Grüßen,
die Liebe zu Tieren zur Entlastung angeführt werden.

Mit beiden überlebenden Eltern gibt es kein unmittelbares Erleben von Krieg und Zerstörung, statt
dessen ein Aufwachsen in einer Welt massiver Abwehrstrategien: die inneren Zerstörungen der
Eltern und der umgebenden Großgruppe sind nicht zu verorten, müssen als Eigenschaften von
Erwachsenen erscheinen, wo sie doch deren Bewältigungsversuche sind, die schließlich zu
Lebensmustern werden. Daß hierin Verwirrungen von Schuldgefühlen und schwerer Scham, die
ganze Destruktion selber sich abbildet, muß später mühsam freigelegt werden.

Manches zeigt sich als Bombenhagel in den Beziehungen, das Überschütten aus nichtigem Anlaß
mit Affekten, mit Panik, die aus existentieller Angst gespeist sind und woran Kinder projektividentifikatorisch
teilhaben, ohne es verorten zu können.
Kinder spüren, daß es bei ihren Eltern vermintes Gelände gibt, das sie nicht verstehen können,
besser nicht betreten sollten, weil dort etwas hochgehen könnte – da rühren sie direkt an die in der
Traumaforschung beschriebenen Verhaltens- und Erlebensweisen, die aber nicht zugeordnet werden
können.

Wenn die Kommunikation über Wahrnehmungen und Gefühle, die Eltern dem Kind anzubieten
vermögen, aus deren eigenen Schutzgründen eingeschränkt ist, vielleicht auch aus Angst, selber für
Schmerz empfänglich zu werden, dann gilt schnell die Anweisung: "wer es so gut hat, soll doch nun
auch froh sein!"

Wer jedoch in Not ist, wünscht sich eine Person, die für diese Bedürfnislage aufnahmebereit ist und sie
mit einer passenden Reaktion beantwortet, damit die angstmachende Notlage in Erträgliches
verwandelt wird. Wenn die Eltern selber ungetröstet traumatisch von Angst ergriffen waren, mag es
schwerfallen, sich den notvollen Affekte des Kindes zu öffnen. Womöglich werden sie sich der
Empathie verschließen, um sich selbst vor erneutem Erleben der eigenen Affekte zu schützen. Wenn
Eltern in existentiell angsterregenden Situationen selber keinen Trost und keine Zuwendung4
erfahren konnten, mag es auch sein, daß sie eine bedrohliche kindliche Angst nicht zu erkennen und
aufzunehmen verstehen.

Objektbeziehungstheorien beschreiben, wie die inneren Strukturen eines Menschen in inneren
Bildern als Niederschlag von früh erlebten interpersonalen Szenen gebildet werden. Die
Interaktionen mit den Pflegepersonen bilden sich ab und werden so zu einem Teil der seelischen
Grundausstattung des Selbst.

So wird mit beiden überlebenden Eltern Schrecken und seine Folgen durch das Erleben der Eltern
hindurch erlebt. Auch ohne deren bewußtes Zutun bildet sich die emotionale Resonanz der
unverarbeiteten Konflikte und emotionalen Zustände im Kind ab. Es entstehen Identifizierungen mit
den Affekten der Eltern, die Übernahme von Schuldgefühlen, Strategien im Dienste einer
Entlastung der Eltern von schweren Verstörungen, Schuldgefühlen und gescheiterten
Lebensperspektiven.

Und obgleich Nachkriegskinder es also so gut haben und nur den Frieden kennen, bleibt doch
festzuhalten, daß sie den Krieg sehr wohl erlebten: durch die Interaktionen und durch die Abwehr
ihrer Eltern hindurch. Ihnen fügten nicht die Kriegsereignisse Schaden zu, sondern das, was sie
davon indirekt in der Fühlung mit ihren Eltern wahrnahmen.

So wie die fachliche Auseinandersetzung in der Trauma-Literatur uns Konzepte und Worte gibt und
damit Denk- und Wahrnehmungsräume schafft, geben uns auch die Beschreibungen von Peter
Fonagy et al. zum kolonisierten Selbst Worte für diese Art der transgenerationalen Weitergabe: das
Selbst der Kinder mit Inhalten und Affekten aufzuladen, die in den Eltern wurzeln und
ununterscheidbar werden, Affekte der Eltern werden übernommen, als wären sie die eigenen.

Bearbeitungen der Nachkriegskinder

"Mentalisierung" meint, die Fähigkeit zu entwickeln, sich selbst bedenken zu können, die von
Winnicott so benannte "eigene Geste" zu entwickeln und einen anderen Menschen in dessen
innerem Erleben aufnehmen und bedenken zu können. So können wir uns selbst verstehen, uns auch
in der Interaktion mit anderen Menschen verstehen und mit diesen in einen Bezug kommen. Der
Boom in der Entwicklung der Psychotherapien, die Erweiterungen der Selbsterfahrung ab Anfang
der 70er Jahre zeigen diese Suche nach Mentalisierung.

Nachkriegskinder, die es „so gut hatten, im Frieden leben zu dürfen", haben vielfach ihren Beitrag
geleistet, indem sie der Elterngeneration die Forschung zu geschichtlichen, politischen,
wirtschaftlichen Zusammenhängen angeboten haben, um über das persönliche Erleben hinaus eine
allgemein soziale Mentalisierung zu begründen.

Ich denke, daß dies die Arbeit loyaler Kinder war, parentifiziert für ihre Eltern tätig im Containing.
Das Konzept des Containment meint nicht, daß fremde Affekte angenommen und ausgehalten
werden müssen. Gemeint ist vielmehr die Aufnahme der Affekte und Resonanzen und darüber
hinausgehend die innere eigene Bearbeitung zur Verfügung zu stellen.

Mir erscheint auch das enorme Interesse an Kriegs- und Nachkriegskindheiten, sowie an
Kriegsenkeln nicht verwunderlich. Es geht hier um Räume des Verstehens, um Einordnung in
zeitgeschichtliche Abläufe, um den Wunsch, das Wissen über transgenerationale und generationale
Prozesse zu erweitern, sich zu verorten und darin Anerkenntnis zu erfahren, wie auch den
Generationen davor Anerkenntnis geben zu können. Der Raum ist auch deshalb für all diese5
Prozesse der Bearbeitung geöffnet, weil eine lange Spanne von Friedenszeit diese Beschäftigung
ermöglicht hat. Die demokratischen gesellschaftlichen Formen, denen dieser Frieden sich verdankt,
sind wiederum der Aufbauleistung und tätigen Wiedergutmachung der Elterngeneration zu
verdanken, auch wenn dies Nachkriegskindern als eine "bleierne Zeit" erschien.

Nachkriegskinder als Patienten suchen uns auf, um in der weit fortgeschrittenen Zeit ihres Lebens
einen Sinn zu konstruieren in der Erzählung, in die sie ihr Leben kleiden.

Wahrhaftige Begegnungen, die Eltern und Kindern beiderseits Trost hätten geben können, wurden
vielfach verfehlt. Dies sind dann Anliegen, die weit über das innerpsychische Befinden Einzelner
hinaus reichen, eingebettet in Handeln und Schicksal einer Großgruppe mit der Gleichzeitigkeit von
Schuld, Leid und Scham. Und gleichwohl wird dieses Nebeneinander von Leid und Schuld, seine
Abwehr, seine Annahme, ja ganz persönlich in Menschen wirksam.
Schwerpunkte
Eine Aufmerksamkeit hierauf kann die Quelle von Versöhnung mit seiner Zeit, mit sich selbst
bedeuten. Die Anerkenntnis, daß in jedem Einzelnen all die destruktiven Möglichkeiten bereit liegen in
solchen Zeiten, in denen der gruppendynamische Sog, der institutionelle Druck, die Umwertung von
Werten gang und gäbe ist, daß auch in uns destruktive Kräfte freigesetzt werden können - ein Gedanke,
der schwer anzunehmen ist. Dies muß aber nicht verleugnet werden, sondern kann Teil eines Wissens
über uns sein, und die Aufgabe ist es, diese mögliche Destruktivität zu zivilisieren.