Stimmungsdynamiken

In der Entwicklungspsychologie wissen wir, daß es Teil der Individuation ist, die eigenen von fremden Affekten zu unterscheiden, um ein Gefühl für sich selbst entwickeln zu können und nicht kolonisiert zu werden von den den Stimmungen anderer, Subjekt der eigenen Emotionen und Wünsche zu sein.

Aber: Sind wir in irgendeinem Bereich unabhängig voneinander?
Gestimmtheit ist nicht denkbar ohne Kontext, die Beziehung zu anderen um uns herum, eingebettet in ein Netzwerk von sozialen Interaktionen, in einen dialogischen Rahmen.

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst:

Angst und Ressentiment stammen aus der Sorge, nicht im sozialen Rang zu sein, der einem die gewünschte Zugehörigkeit bestätigt. Es wird Vertreibung geben, Loser geben, kränkenden Angriff auf die Würde, denAusschluß aus Kontexten von Achtung und Anerkennung.
Wir kennen das in Situationen der Getrenntheit, schweren psychischen Angriffs, einem beruflichen Zusammenbruch, in einem Ehestreit, wenn man verlassen wurde.

Warum bedroht uns Angst vor dem Ausschluß: Rollen fallen weg, die Grundbedürfnisse werden berührt, Verlust an Selbstwertschutz, Sicherheit, Kontrolle.

Mit Ciompi können wir beschreiben, wie Angst zu Affektlogik führt, dem Fühlen über die Ereignisse, das die Wahrnehmung bestimmt, wenn das Denken mittels des vorherrschenden Affekts organisiert wird. Affektlogik muß ernst genommen werden, weil Ausgangspunkt gefühlten Wissens auch tatsächliche Beobachtungen und Ereignisse sind.
Eine Straftat in der Nachbarschaft setzt eine Woge an Mitschwingen in Gang: man sei heutzutage nicht sicher. Auch wenn die Statistik sagt, wie wenige Prozent der Menschen tatsächlich betroffen sind. Es hat mit der entstehenden Angst um Verlust an Sicherheit und Kontrolle zu tun, als den elementaren Bedürfnissen.

Angst führt zu Affektlogik, die dann mit „Aufklärung“ rational beantwortet werden soll. Aufklärung, Statistiken, Studien wirken nicht gegen affektlogische Zustände, werden nur ebenso gefühlt und dann als Verschleierung erlebt: „Lügenpresse“.

Affektlogisch entstehen innere Lagen, die für Menschen nicht greifbar sind, und dann werden irgendwelche Nöte und Ängste geklagt, weil die eigentlichen unbekannt oder peinlich sind. So sind diese Ängste zunächst diffus und objektlos, sie suchen sich aber die Objekte, um benennbar und legitimiert zu werden: Kriminalitätsangst, Angst vor Fremden und Überfremdung. Tatsächlich geht es aber um das Leid der eigenen Entfremdung und der Bedrohtheitsgefühle.

Wenn dies geschürt und aufgeladen wird, von vielen geteilt wird und damit eine Legitimierung erfährt, schwillt die Affektlage weiter an.

Aufklärung, Statistiken, Studien wirken nicht, sondern werden nur ebenso gefühlt, nämlich als Verschleierung. Aufklärung wirkt auch wegen der kognitiven Dissonanz nicht: man versucht, seine Sichtweise zu erhalten und nicht ins Grübeln in Ambivalenzen zu kommen. Auch der Confirmation bias gehört hierher: daß nur die  Informationen überhaupt ausgewählt und wirksam werden, die just unsere Erwartungen bestätigen. Informationen, die hierher nicht passen, bleiben ungehört.

Wer mit Gruppen arbeitet weiß, wie sehr Themen sich aufladen können, Fahrt aufnehmen, sich verstärken, wie dann Unbetroffene sich einklinken. Der Begriff der „Interaffektivität“ beschreibt dies. Gefühlsansteckung verbindet uns blitzschnell in vermeintlicher Zugehörigkeit, wenn das Denken mittels des vorherrschenden Affekts organisiert wird. In Gruppen werden Menschen ihre eigene Angst los, indem sie die allgemeinen Ängste schüren bis in eine Massenregression, in der sie dann aufgehoben sind, weil so ein Chor entsteht, der wiederum eine Teilhabe gibt. Kollektive Erregung kann in einer ressentimentgeladenen Gemeinschaft zum sozialen Bindemittel werden. Die Stressschwingungen synchronisieren ein Kollektiv, die gemeinsame Notlage hält zusammen.

Wir können unser Wissen über kollektive Vorgänge zur Verfügung zu stellen, zu dem auch gehört, dass durch Abschiebung, Ausgrenzung und Verpönung Teile eines Diskurses in den Untergrund gehen, was häufig zu weiterer Verschärfung der Gegenbewegungen führt, auch des Fundamentalismus.

„Fundamentalismus“ als kollektive Abwehrform bei bedroht erlebter Idenität

Kernberg (2000) beschreibt in: „Ideologie, Konflikt und Führung“ kollektive Affektlagen und er benennt als Abwehrformen vor allem Paranoia und Fundamentalismus als narzisstische Reaktionsbildungen bei bedroht erlebter Identität.

Es geht um das Bedürfnis von Menschen, ihr Fundament, ihre Verankerung zu schützen: Werte, Überzeugungen, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. Es wird nach eindeutiger Zugehörigkeitgesucht und gleichzeitig nach einer starken Komplexitätsreduktion. In Zeiten der Unsicherheit bietet diese Abwehrform zwei Vorteile: die Komplexität kann radikal reduziert werden und es entsteht eine erneute Zugehörigkeit: die eine Ursache für die Erscheinungen in der Welt und die
eine erlösende Idee.

Ausgewählte Traumata, sich als Opfer einer Entwicklung zu sehen: dies verfügt über starke identitätsstiftende Macht und bündelt die Affekte in einfache Muster. In Zeiten existentieller Unsicherheit ist es grade die Gruppe, die dem Einzelnen Halt und neue Resonanzräume geben kann, wenn auch in Form eines „wir gegen die“.

Es ist aber nicht jede tiefe Überzeugung fundamentalistisch: es gehört dazu ein Wahrheitsanspruch.
Die eigenen Dogmen werden als unfehlbar betrachtet. Erlebte Wirklichkeit wird als objektiv genommen, statt als fortwährende subjektive und intersubjektive Konstruktion.

Es geht um ein Zusammenspiel der psychischen Struktur einzelner mit kollektiven Prozessen, die sich miteinander verzahnen. Das politisch und religiös begründete Geschehen hat innerpsychische Wurzeln und wird zugleich in der politischen Aussage formuliert. Die Bestätigung einer hierfür signifikanten Gruppe anderer kann eine Überzeugung hinreichend sicher machen und immunisieren gegen Meinungen und Handlungen auch sehr breiter Mehrheiten.

Groll:
beginnt mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit, dauernder Ohnmacht gegenüber erlittenem Leid.
So wird eine schuldige Welt konstruiert und angeklagt. Es wird zur Stimmungslage, bei der die Aufrechterhaltung des beschädigten Zustandes ein Zeuge des Geschehenen ist. Es darf sich nicht verändern.
Eine Veränderung würde Trauer um die vergebenen Möglichkeiten der Kreativität, eine Anerkenntnis von Begrenztheit des Ausgleichs erfordern.

Begeisterung im Dienste der Abwehr
eine narzisstische Begeisterung, dabei zu sein, gehört in deutsche Geschichte: "die Fahne flattert uns voran..." wenn wir "im Frühtau zu Berge" ziehen, die politisch so brauchbare Stimmung. Als die Angst vor der Niederlage spürbar wurde: die begeisterte Zustimmung 1943 zum Totalen Krieg, die just so lange anhielt, wie der Einpeitscher sein Publikum emotional zu bannen verstand.

Wir sind aus unserer Geschichte heraus skeptisch gegenüber Begeisterungsdynamiken.

Die Abwehrseite erkennt man darin, daß die Mühsal der sozialen Realität nicht gezeigt wird, sondern im Dienste von Machterwerb eine Stimmung in Gang gesetzt wird, die sich fast wie ein Erlösungsversprechen anfühlt. Stimmung ist dann der gemeinsame Erlebensraum, der kreiert wird.

Stimmungen der Empörung
Häufig wird die Empörung mit der Frage verknüpft: „wo bleibt der Aufschrei?“, auf Aktion drängen. Wir kennen das aus berufspolitischen Belangen, wo die Empörung schnell versandet, wenn es um die mühsame Umsetzung der Abhilfe in den Instanzen geht: um wirklich zu verändern.

All dies sind Angebote in Prozessen der angstvoll erlebten Desintegration. Sie dienen der Angstabwehr und führen eher nicht wirklich in kollektive Bearbeitungen.

Abwehrgruppen, etwa fundamentalistische Gruppen, lassen sich nicht durch Verachtung, Ausschluß und Beschimpfung, forcierte Belehrung ansprechen, sondern indem man sich für die Probleme interessiert, die zu ihrer Entstehung geführt haben. Statt zu denken, daß die Pöbler gar kein Anliegen hätten und „Pack“ sind.

Allons enfants de la patrie - Völker hört die Signale
Ich möchte zum Schluß einer Stimmungslage Raum geben, die viele Elemente der bisher genanten enthält, Begeisterung, Groll, Empörung und die dem Wandel dient, dem Aufbruch einer Vision. Stimmungen der Hoffnungen: wenn eine Zukunft imaginiert werden kann, die den gangbaren Weg zeigt, die Perspektiven verändert.

So sind also Stimmungsdynamiken Teil einer Abwehr, ebenso auch als Impuls der Veränderung, Wechselstimmung möglich. Sie stellen eine Zugehörigkeit her, die die Angst in der gemeinsamen Aktion überwinden will.