Renate Ritter www.renate-ritter.de  2021

In der Lebensmitte - zur innerpsychischen Wirkung der äußeren Lebensaufgaben

 
Das Alter um 4o – 50 markiert die Lebensmitte, von etwa 35 bis zu 55 Jahren: die
herausgeschobene Adoleszenz, emerging adulthood, die lange Entwicklungszeit der
Identitätsexploration liegt davor. Auf der anderen Seite des Weges das aktive, später das hohe Alter,
das sich weiter ins Hochbetagte ausdehnt.
Die Zeit der Mitte ist in der Komplexität kaum allgemeingültig zu beschreiben, die Ordnungen
von Ausbildung, Berufseintritt, Beziehungsaufnahme und generativer Aufgabe sind zeitlich
vielfältig verschoben. Es ist eine Zeit maximaler Beanspruchung im Arbeiten für sich selbst, für die
Folgegeneration, für die eigene Elterngeneration: alle Aufgaben stellen sich gleichzeitig.
Menschen machen daraus ganz unterschiedliche biographische Bearbeitungen und ich will daher den
Zugang herstellen über die Beschreibung der Aufgaben, die sich allen gleichermaßen stellen, die hier
ihre Bearbeitung erhalten oder ihre Entwicklung verfehlen, hier jedenfalls kulminieren.
Mitte ist die Zeit mit genügend Erfahrung, um herauszutreten aus den früheren Zuschreibungen, wer
man sei, und den späteren gesellschaftlichen Behauptungen, wer man sein solle. Genügend Festigkeit
in der Person, sich in der Eigenart zu behaupten, Fürsorge für sich selbst, den tragenden Körper
einzusetzen.
Mit 40 -50 Jahren ist zu erwarten, daß es bereits zur Wahrnehmung der eigenen Geschichte kommt
und das bedeutet auch, daß frühere Traumata, als solche seinerzeit beiseite gedrängt, einen Namen
bekommen, wenn das inzwischen erstarkte Selbst zulassen kann. Auswirkungen auf das eigene
Leben und Beziehungen können noch einmal anders verstanden werden.
Der eigene Eintritt in die Generationenverantwortung kann eine versöhnlichere Sicht auf die
Beelterung durch die eigenen Eltern bedeuten. Oder genau so auch aus traumatischen Gründen den
Kontakt zu beenden.
Vergleich mit den Angehörigen der gleichen Generation
Die voll entfalteten Möglichkeiten der Mitte markieren die Zeit des Vergleichs, der Konkurrenz, die
Eroberung von Positionen, die Auseinandersetzung mit den Gefährten der gleichen Generation im
Narzissmus der kleinen Differenzen. So viel Stolz wie sozialer Neid: es gehört zur sozialen
Selbstverständlichkeit, unsere Position in bezug auf andere und deren Position zu definieren.
Macht, Anerkennung und Status werden hier errungen, erobert und gezeigt. Auch das Gewinnen
von Freunden und Partnern kann Teil dieses Wettbewerbs werden.
Die Zugehörigkeit zu Gruppen, die uns legitimieren und mit Rang ausstatten, die Frage der Position
im Hinblick auf Macht stellt sich.
Und andererseits die Ängste und Hemmungen, in die Rollen der erwachsenen Mitte einzusteigen, die
sich zeigen in Verzögerungen, verweigerten Verantwortungsübernahmen, privat wie beruflich, im
deutlich werdenden Unterschied zwischen denen, die die Eroberungen dieser Spanne leisten und2
denen, die dies nicht können oder nicht wollen.
Die Person in der Mitte ihrer Bindungen

Bindungsgestaltung und Elternschaft sind soziale Konzepte, deren Zuschreibungen sich ändern, es
erweitern sich die Lebensmöglichkeiten.
Wenn wir einen Blick darauf werfen, wie die Paarbeziehung in den letzten Jahrhunderten gelebt
wurden, läßt sich allerdings sagen, daß die Patchwork-Familie nichts Neues ist: die Sterblichkeit
der Frauen im besonderen: in vielen Biographien finden wir die 2. oder 3. Stiefmutter, nicht
umsonst erzählen die Märchen vom Schicksal der Kinder mit Stiefmüttern. Die Mitglieder
wechselten häufig, Stiefmutter, Stiefvater zu haben war nicht die Ausnahme, sondern die Regel.; ein
Leben in seriellen Ehen.
In Familien wie in allen Organisationsformen, in denen wir leben, prägen Triaden unser Leben. Dies
meint die Fähigkeit, gleichzeitig zu mehreren Personen und Aufgaben Beziehungen zu haben und alle
zusammen wahrnehmen und denken zu können. Es ist beträchtliche soziale Kompetenz, die mit
Reifungsprozessen zu tun hat.
Es müssen zuzeiten viele Triaden gehalten werden: 2 Geschiedene Eheleute, ein gemeinsames Kind.
Jeder der Eheleute hat inzwischen eine neuen Partnerschaft und darin wiederum ein gemeinsames
Kind.: wie schnell hier komplexe, verworrene Zugehörigkeiten entstehen. Wieviel psychische Arbeit
gehört dazu und wie sehr die familiären Zerreißproben die Kräfte rauben, wie sehr Feindseligkeit
eindringen kann, wenn die triadische Haltung verloren geht. Verletzungen, Verrat, Loyalitätskonflikte,
was Ausschluß bedeuten kann.
Eine hoch einzuschätzende Leistung ist das Halten des familiären und überhaupt Lebensrahmens,
„geordnete Verhältnisse“ in fluiden Zeiten. Was wie Spießertum, Kleinlichkeit und Rigidität aussehen
kann, verbindlich einzuhaltende Formen des Tagesablaufs, der Begegnungen gibt doch den
zuverlässigen Rahmen und ist eine beträchtliche Leistung der praktizierten Alltäglichkeit.

Die Auseinandersetzung mit Schicksal und Grenzen der Macht

Die Person in der Mitte hat bereits Schicksal erlebt: als das, was man nicht in der Verfügungsgewalt
hat, was nicht zur Disposition eigenen Willens steht.
Individuelle Lebensentwürfe haben meist eine lineare Struktur: „wenn nichts dazwischen kommt,
wenn die Gesundheit mitmacht“, man möchte gerne Subjekt des Geschehens sein.
Die Erfahrung des Schicksals als Gegenteil der Machbarkeit,
Verluste und Entwurzelungen ertragen. die Beeinträchtigungen an unserem Lebensentwurf:
die Konfrontation mit den existentiellen Fakten des Lebens erscheint manchmal wie eine Verletzung
des Entwurfs zum Leben, als Bedrohung in Selbstwert und Identität.

Transgenerationale Linien und generationale Aufgaben

Sofern aufgewachsen im Nachkriegsdeutschland, im Frieden, haben wir erlebt, was das Schweigen
und Verschweigen der Generationen vor uns delegierte und den Nachgeborenen überließ, emotional
die Wucht von Schuld, Scham zu tragen, die Abwehrbewegungen des Verdrängens zu identifizieren
und zu durchbrechen. Das Erforschen des Verschwiegenen zu übernehmen: dies lag in
transgenerationaler Delegation als Aufgabe bereit.
Dies als generationale Aufgabe zu übernehmen, den zivilisierenden Weg zu entwickeln, war eine
gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung.
Nun müssen wir uns nun orientieren im Kontext, der sich weltweit öffnet: mit unterschiedlichen
Weltdeutungen.
Beklagt werden ja für unsere Zeit oft Werteverluste: vielleicht ist es eher ein Rückgang der für
alle Mitglieder verbindlichen Werte. Diese Komplexität in den öffentlichen Diskurs zu bringen, sie
nicht zu verpönen, diese Aufgabe kommt dem gesellschaftlichen Engagement der Mitte zu.
Paradigmenwechsel innerhalb einer Generation – wieviel davon schon in unserer Lebensspanne, was
die Haltung zum Umgang mit Resourcen betrifft: die Auffassungen, die wir über eine gute Kindheit
heutzutage haben, über Geschlechter, die Formen von Beziehungen, die Haltung zu Gewalt und
Befriedung, über gutes Leben, über guten Umgang.
Die generationale Änderungschance kann etwa bedeuten, die Migration nicht nur als Handlung der
Migrierenden zu verstehen, sondern die Migration der Themen aufzunehmen, die sie mit sich
bringen. Ich habe hier transgenerationale Delegation deutscher Nachkriegsgenerationen skizziert,
tatsächlich leben wir mit Menschengruppen, die eigene traumatische Narrative in Delegationen
mitbringen, die Geschichten, die türkische Familien, rußlandeutsche Familien, die schon lange das
Leben teilen, erzählen, wenn wir sie fragen würden.
Kaum selber in der Mitte angekommen, schon konfrontiert mit den Jungen, die ihr Narrativ suchen
und einen Paradigmenwechsel anmahnen, auf die Zukunft ausgerichtet, nämlich zu ihrer späteren
Mitte, des Klimawechsels, der Postwachstumsökonomie.

Ängste, Abwehr und Befremdung: was machen diese Aufgaben mit Menschen:

Wandel ist ängstigend, vor allem, wenn es nicht innerlich bereits dorthin drängt, wenn Veränderungen
als etwas erlebt werden, was einem aufgezwungen wird.
Angst stammt aus der Sorge, nicht im sozialen Rang zu sein, der einem die gewünschte
Zugehörigkeit bestätigt. Es wird Vertreibung geben, Loser geben. der kränkende Angriff auf die
Würde, der Ausschluß aus Kontexten von Achtung und Anerkennung.
Wir kennen das in Situationen der Getrenntheit, schweren psychischen Angriffs, einem beruflichen
Zusammenbruch, in einem Ehestreit, wenn man verlassen wurde. ein affektiver Zustand, wenn
Bindung verloren geht.
Veränderungen sind nicht immer Chancen für kreative Menschen: dafür sind oft die Resourcen gar
nicht vorhanden.
Unsichere Arbeitsplätze, Sorgen um Chancen der Kinder, um Einkommen und Alterssicherung
Schulden, Vereinzelung: Menschen sind in Befindlichkeiten in Resonanz auf die Bedingungen, die4
das umgebende System bereit hält.
Erschöpfung wächst nicht unbedingt proportional zur vollbrachten Arbeit, folgt anderen Gesetzen,
die mit entkoppelten Lebensprozessen zu tun haben, die der Einzelne als Enteignung erfährt.
Es gibt eine Vielzahl von Reaktionen auf das Geschehen des Nicht mehr Teilhabens , den Verlust von
Kontext, ohne daß dies als psychische Krankheit gefaßt werden kann, obgleich es doch für die
Betroffenen sich sehr leidvoll anfühlt und auch ist.
Gemeinsam an den Abwehrformen ist das Nicht Wahrnehmen wollen, nicht fühlen wollen.
Langanhaltende Verdrängungsprozesse lassen dann eine innere Leere entstehen, eine Unmöglichkeit
mit innerpsychischen Befindlichkeiten umzugehen, wenn ein entleertes Selbst zurückbleibt.
Natürlich: In die Leere hinein kann sich sturzartig einiges ergiessen: äußere Erregungen, geborgte
Ideale oder sie kann auch aufgefüllt werden mit virtuellen oder hochprozentigen Inhalten, etwas
vollstopfen an Zeit und Belang.
Alkohol entspannt, beruhigt dämpft ab, dem Stress zu entfliehen, abschalten zu können, was sonst
nicht abzuschalten ist.
Wir in den Beziehungsberufen – wir sprechen in der Mitte auch von uns selbst.
Wir als Menschen in Beziehungsberufen stehen an der Nahtstelle, wo man brisante soziale aber
auch persönlich existentiell ergreifende Konflikte in ein Verständnis zu bringen sucht.
Natürlich sehen wir uns in unserem psychotherapeutischen Beruf angehalten, Probleme aller Art auf
ihre Therapierbarkeit zu untersuchen.
Wir sollten in unserem Nachdenken offenhalten, daß womöglich der psychotherapeutische Diskurs
selber vielfach zum Mittel werden kann, der eigentlich schmerzhaft durchschnittlichen Realität
auszuweichen, der existentiellen Konflikte und Bedürfnisse.
Psychisch gesund ist nicht derjenige ohne Beeinträchtigungen, sondern derjenige, der einen guten,
kreativen Umgang mit eigener Begrenztheit und Verletzlichkeit gefunden hat.
Inzwischen ist deutlich, daß ich meine, Psychische Gesundheit hat damit zu tun, sich den
Entwicklungsschwellen im Leben zu öffnen, die existentiellen Konflikte anzunehmen, die immer
Bindung und Getrenntheit verhandeln. Den Kontext meiner generationalen Bezogenheit zu verstehen
suchen und anerkennen als grenzgebende Bedingung. Die tragische Dimension der Existenz
akzeptieren: das Dasein ist wesentlich geprägt von nicht lösbaren Konflikten und Spannungen, und die
Aufgabe besteht darin, sich daran abzumühen.
Grenzen anerkennen, eine lebbare Art des Umgehens mit den unabwendbaren existentiellen Belangen,
der Versehrtheit unseres Lebens.
Den Kontext, in den wir gestellt sind, bedenken und entwickeln helfen. ihn nicht nur als Quelle von
Angst und Anklage zu verstehen. Also nicht nur in der Abwehr gegenüber den Zumutungen der
Mitte zu bleiben, sondern dies ebenso als Teil der generationalen Lebensaufgabe zu sehen.

Ich leihe mir schließlich die Worte von Reinhold Messner:
Er schreibt über seine Durchquerung der Wüste Gobi, allein, 2000 km, unter dem Titel „Die Wüste in
mir“ darüber, das innere Geschehen im äußeren Tun und der Herausforderung zu bearbeiten:
„Ich muß die Welt mit meinen Schritten ausmessen. Nur so kann ich selber ermessen, wer ich bin und
wo ich hin gehöre.
Mein Weg durch die Wüste Gobi war auch ein Weg durch mich selber. Ich bin einem Traum gefolgt,
als ich kam, um die Wüste zu durchqueren. Es kam keine Erlösung am Ende, sondern nur die Einsicht
in das eigene Altern.....“.